Dienstag, 7. Juli 2020

Verbotene Kräuter? Die Wirkung von Cannabis war schon vor 250 Jahren Streitthema

Tübinger Historikerin rekonstruiert einen Legalisierungsdiskurs zwischen Wissenschaft und Kirche aus dem 18. Jahrhundert
Soll Cannabis zu medizinischen Zwecken legalisiert werden oder bleibt es eine illegale Droge? Dies wird seit Jahren in vielen Ländern diskutiert ‒ und ist doch schon wesentlich länger Streitpunkt als gedacht: Bereits im Mexiko des 18. Jahrhunderts warb der Priester und Wissenschaftler José Antonio Alzate y Ramírez für die heilende Wirkung der umstrittenen Pflanze – und legte sich dabei mit der spanischen Kolonialmacht und der Inquisition an. Die Historikerin Dr. Laura Dierksmeier vom Sonderforschungsbereich RessourcenKulturen an der Universität Tübingen untersucht die damalige öffentliche Auseinandersetzung dazu in Mexiko. Ihre Studie „Forbidden herbs: Alzate’s defense of ‚pipiltzintzintlis‘“ wurde am 07. Juli im Journal Colonial Latin American Review veröffentlicht.

In einem Zeitungsartikel von 1772 verteidigte Alzate Cannabis, das er unter dem Namen „Pipiltzintzintlis“ aus eigenen Anbau kannte: Er schrieb ihm einen wertvollen medizinischen Nutzen für die Behandlung von Husten, Gelbsucht, Tinnitus, Tumoren, Depressionen und vielem mehr zu. Zudem hielt er die Hanfpflanze für einen hervorragenden Rohstoff zur Herstellung von Seilen für Segelschiffe. Die Spanische Inquisition betrachtete das Halluzinogen hingegen als ein Mittel, um mit dem Teufel in Verbindung zu treten und hatte es daher verboten ‒ genauso wie viele andere psychoaktive Pflanzen oder Verhaltensweisen, die christlichen Grundsätzen angeblich widersprachen.

José Antonio Alzate y Ramírez (1737 - 1799) hatte eine Mission: er wollte der mexikanischen Öffentlichkeit wissenschaftliche und vor allem naturkundliche Erkenntnisse näher bringen. Im Laufe seines Lebens war er Herausgeber vier verschiedener Zeitungen, Mitglied des königlichen botanischen Gartens in Madrid und korrespondierendes Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften.

Alzates Belege zum Nutzen von medizinischem Cannabiskonsum reichen von eigenen Erfahrungen, über Berichte von Ureinwohnern und Matrosen bis hin zu medizinischen Enzyklopädien. „Das Spannende ist dabei vor allem die Bandbreite der Quellen des 18. Jahrhunderts, die den medizinischen Marihuanakonsum unterstützten“, sagt Laura Dierksmeier. Alzate nenne hier bekannte Wissenschaftler der damaligen Zeit, wie den Naturforscher Jacques-Christophe Valmont de Bomare, den Mediziner Michael Etmüller, den Arzt und Mitbegründer der Wissenschaftsakademie „Royal Society of London“ Thomas Willis sowie die Ärzte Guy-Crescent Fagon und Engelbert Kämpfer.

Die Historikerin untersuchte außerdem weitere Quellen aus dieser Zeit, die von dem mexikanischen Forscher nicht zitiert wurden, weil er keinen Zugang dazu hatte, oder die Sprache nicht beherrschte. So zum Beispiel den Mediziner und Botaniker Jacobus Tabernaemontanus, der in seinem „Neuw Kreuterbuch“ von 1588 Frauen zur Benutzung von Cannabis rät, um Unterleibsschmerzen zu lindern, oder auch den ersten bekannten englisch-sprachigen Fürsprecher Richard Hooke.

„Alzates öffentliche Verteidigung des verbotenen Krauts zeigt allgemeine Streitfragen der mexikanischen Gesellschaft“, bewertet Laura Dierksmeier die Rolle des unbequemen Geistlichen. „Er war ein unermüdlicher Vermittler zwischen kirchlichen Autoritäten und der Zivilgesellschaft, zwischen der spanischen Inquisition und seinen eigenen wissenschaftlichen Beobachtungen, zwischen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit sowie zwischen indigenem und europäischem Wissen. Alzates Methoden waren europäisch und typisch für die Aufklärung, seine Mission und sein Fokus aber waren spezifisch lateinamerikanisch: Er war stolz auf die natürliche Umgebung Mexikos und förderte die Verwendung einheimischer Kräuter, auch wenn dies bedeutete, sie vor dem Verbot der Kirche zu verteidigen.“

Das historische Beispiel zeige, dass die Legalisierung von Marijuana schon sehr lange ein kontroverses Thema sei, wie die Wissenschaftlerin erklärt. Allerdings drohte Kritikern des Verbotes damals die Verbannung oder Todesstrafe. Forscher der frühen Neuzeit nahmen ein großes Risiko auf sich, um Informationen zu veröffentlichen, die ihrer Meinung nach der Allgemeinheit dienten. Alzate selbst musste seine Veröffentlichungen nicht mit dem Leben bezahlen. Jedoch wurden drei seiner Zeitungen zensiert und am Ende eingestellt, um ihn in der Öffentlichkeit mundtot zu machen.

„Die Erkenntnisse der Studie können helfen, die gegenwärtige Legalisierungs-Debatte zu bereichern oder zumindest die verhärteten Fronten aufzubrechen“, sagt Dierksmeier. „Denn laut Alzate und den von ihm zitierten Wissenschaftlern überwiegt der Nutzen der Hanfpflanze als Baustoff oder Medizinpflanze die möglichen Nebenwirkungen. Oder wie José Antonio Alzate y Ramírez selbst sagte: ‚Ich glaube, ich habe die Vorteile der Nutzung von Pipilzitzintlis demonstriert, und wie wir in der Sprache der Theologen sagen: Es ist schlecht, weil es verboten ist, nicht verboten, weil es schlecht ist‘.“
Quelle:                                                                                                                                                                                                                        Antje Karbe Hochschulkommunikation                                                                                                                                                                  Eberhard Karls Universität Tübingen
Jacobus Tabernaemontanus: Neuw vollkommentlich Kreuterbuch. Erstausgabe 1588.

Jacobus Tabernaemontanus: Neuw vollkommentlich Kreuterbuch. Erstausgabe 1588.                          Verwendung mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek der Universität Tübingen.

Gefährliche Angst vor dem Virus | Studie am UKU zu Herzinfarktpatienten während der Coronavirus-Pandemie

Das Coronavirus und die damit einhergehenden Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens haben den Alltag vieler Menschen stark verändert. Doch nicht nur das Virus an sich, auch die Angst vor einer Ansteckung mit dem neuartigen Krankheitserreger kann schwerwiegende Folgen haben, das bestätigt eine aktuelle Studie des Universitätsklinikums Ulm. Expert*innen der Klinik für Innere Medizin II haben untersucht, welche Veränderungen es bei der Versorgung von Patient*innen mit akuten Herz-Kreislauf-Erkrankungen am Universitätsklinikum Ulm gab und ob sich die Anzahl der Patient*innen mit diesem Krankheitsbild verändert hat.
„Neben der Angst vor einer Ansteckung mit dem neuartigen Krankheitserreger, denken im Moment die meisten Menschen bei Symptomen wie Luftnot und Brustschmerz zunächst an eine Coronavirus-Erkrankung und nicht an einen Herzinfarkt“, so Professor Wolfgang Rottbauer, ärztlicher Direktor der Klinik für Herz- und Lungenerkrankungen des Universitätsklinikums Ulm. „Wir wissen, dass eine verzögerte Diagnostik und Behandlung eines Herzinfarktes Leben und Herzmuskel kostet – denn Zeit ist Muskel. Die Effekte der Coronavirus-Pandemie auf die Herzinfarktversorgung haben wir deshalb über unsere Chest Pain Unit (CPU) analysiert“, so Professor Wolfgang Rottbauer weiter. Die CPU arbeitet seit zehn Jahren für die Großregion Ulm und ist auf die notfallmäßige Behandlung von Herzpatient*innen spezialisiert.
Das Studienteam um Professor Armin Imhof hat hierzu alle Daten von Patient*innen, die zwischen dem 21. März und dem 20. April dieses Jahres notfallmäßig über die CPU aufgenommen wurden, untersucht. „Im Vergleich mit den Patientinnen und Patienten der vergangenen Jahre im gleichen Zeitraum waren die Herzinfarkte größer. Es traten häufiger schwere Komplikationen auf, wie beispielsweise Defekte der Herzscheidewand, die auch häufiger den Einsatz von Herz-Lungenmaschinen notwendig machten. Diese Art der Komplikationen beobachtet man seit Einführung der Chest Pain Units und durch Patientenaufklärung sonst nur noch sehr selten“ berichtet der Erstautor der Studie Dr. Manuel Rattka.
Die Studie zeigt, dass Patient*innen – sogar wenn sie Symptome eines Herzinfarkts zeigten – später medizinische Hilfe gesucht haben als in den beiden Jahren zuvor. „Wir haben die Laborwerte unserer Patientinnen und Patienten mit den Werten der letzten drei Jahre verglichen und festgestellt, dass die kritischen Werte während des Untersuchungszeitraums deutlich höher waren. Diese Erhöhung deutet darauf hin, dass zwischen den ersten Symptomen akuter Herz-Kreislauf-Probleme und der ersten medizinischen Untersuchung eine längere Zeit vergangen ist als üblich“, sagt Professor Armin Imhof. Dies bestätigt auch den Eindruck von Oberarzt PD Dr. Sinisa Markovic, Leiter der Chest Pain Unit und Mitautor der Studie.

Neben der Versorgung in der CPU haben die Herzspezialist*innen des Universitätsklinikums Ulm auch die generelle Anzahl der Akutaufnahmen an der Klinik für Innere Medizin II analysiert. Die an der Studie beteiligten Ärztinnen und Ärzte untersuchten im gleichen Zeitraum (21. März bis 20. April 2020) ob sich die Zahl der Patient*innen, die aufgrund akuter Herz-Kreislauf-Probleme in der Klinik für Innere Medizin II aufgenommen wurden, im Vergleich zu den Vorjahren verändert hat. Die Ergebnisse bestätigen, was viele schon vermuteten: „Verglichen mit den Jahren 2017 bis 2019 haben wir im untersuchten Zeitraum rund 20 Prozent weniger Patientinnen und Patienten wegen akuter Herz-Kreislauf-Probleme aufgenommen“, erklärt der Studienleiter und Oberarzt an der Klinik für Innere Medizin II, Professor Armin Imhof. „Dies liegt wohl nicht daran, dass plötzlich weniger Menschen an diesen Symptomen leiden, sondern – so vermuten wir – vielmehr an der Angst vieler, sich in einer Klinik mit dem Coronavirus anzustecken.“
Hinzu kommen könnte, dass einige Patient*innen nicht zur Überlastung des Gesundheitssystems während der Coronavirus-Pandemie beitragen wollten bzw. ihre Symptome selbst als nicht kritisch einschätzten. Besonders in den ersten 15 Tagen der Kontaktbeschränkungen seien die Patientenaufnahmen deutlich zurückgegangen. „Dieser Rückgang ist eine besorgniserregende Entwicklung, denn bei vielen Krankheitsbildern, die wir in unserer Klinik behandeln, zählt jede Sekunde. Wenn Menschen, die akute Symptome verspüren, nicht rechtzeitig in eine Klinik kommen, kann das tödliche Folgen haben“, sagt Professor Armin Imhof.

Im Zuge der Coronavirus-Pandemie wurden am Universitätsklinikum Ulm für die Patient*innen, Mitarbeiter*innen und Besucher*innen umgehend zahlreiche Schutzmaßnahmen umgesetzt. Auch während der Hochphase der Pandemie konnten Patient*innen, die mit akuten Herz-Kreislauf-Problemen und anderen kritischen Symptomen in die Chest Pain Unit eingeliefert wurden, jederzeit sicher und effizient dort, in den Herzkatheterlaboren und der kardiologischen Intensivstation versorgt werden.

Über die Chest Pain Unit (CPU)
Auf der Chest Pain Unit der Universitätskardiologie (Klinik für Innere Medizin II) des UKU werden täglich 20-30 Patient*innen mit Verdacht auf Herzinfarkt aus der Stadt und Region Ulm behandelt. Es werden mehr als 2.500 Stentimplantationen an Herzkranzgefäßen durchgeführt, wenn nötig auch unter Einsatz der Herzlungenmaschine. In der Kardiologie des Universitätsklinikums Ulm werden mehr als 6.000 stationäre Patient*innen pro Jahr wegen Herzkrankheiten wie Herzdurchblutungsstörungen (Herzinfarkt), Herzrhythmusstörungen, Herzklappenerkrankungen und Herzschwäche behandelt. Die Herzklinik des UKU ist eine der größten Universitätskardiologien Deutschlands und zählt seit Jahren im Fokus Ranking aufgrund seiner Reputation, seiner Leistungsstärke, seiner höchsten Qualitätsstandards und wissenschaftlichen Leistungen zu den Top Einrichtungen der Herzmedizin in Deutschland.
Quelle:                                                                                                                                                                                                                            Nina Schnürer Unternehmenskommunikation                                                                                                                                Universitätsklinikum Ulm

Nährstoffe aus Mikroalgen: eine umweltfreundliche Alternative zu Fisch

Mikroalgen könnten eine alternative Quelle für die gesunden Omega-3-Fettsäuren in der menschlichen Ernährung sein – und das umweltfreundlicher als beliebte Fischarten. Das zeigt eine neue Studie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU). Die Studie erschien kürzlich in der Fachzeitschrift "Journal of Applied Phycology" und gibt erste Hinweise auf die zu erwartenden Umwelteffekte, wenn Mikroalgen in Deutschland produziert würden.
Mikroalgen befinden sich bereits seit einigen Jahrzehnten im Fokus der Forschung - zunächst als Rohstoff für alternative Kraftstoffe, in jüngster Zeit aber verstärkt als Quelle von Nährstoffen für die menschliche Ernährung. Produziert werden sie hauptsächlich in offenen Teichen in Asien. Diese stellen jedoch ein Risiko für mögliche Verunreinigungen dar. Einige Algenarten lassen sich zudem besser in geschlossenen Systemen kultivieren, in so genannten Photobioreaktoren. "Wir wollten herausfinden, ob Mikroalgen, die in Deutschland in Photobioreaktoren produziert werden, eine umweltfreundlichere Quelle für wichtige Nährstoffe sein könnten als Fisch", sagt Susann Schade vom Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften der MLU. Bisher wurde diese Produktionsmethode häufig nur mit der Kultivierung in Teichen verglichen und schnitt dabei aufgrund höherer Umweltbelastungen oftmals schlechter ab. "Wie hoch diese Umweltwirkungen bei der Algenproduktion für die menschliche Ernährung aber genau sind, wurde bisher kaum untersucht, vor allem nicht unter klimatischen Bedingungen wie sie in Deutschland vorherrschen", so Schade weiter.

In ihrer Studie entwickelten die Forscherinnen und Forscher daher ein Modell, um die standortspezifischen Umweltwirkungen zu bestimmen. "Wir haben so unter anderem die CO2-Bilanz von Nährstoffen aus Mikroalgen und Fisch verglichen. Außerdem haben wir analysiert, wie sehr beide Nahrungsmittelquellen die Versauerung oder zu hohe Nährstoffgehalte in Gewässern begünstigen", erklärt Dr. Toni Meier, Leiter des Innovationsbüros nutriCARD an der MLU. Die Forscherinnen und Forscher konnten so zeigen, dass die Mikroalgenzucht grundsätzlich vergleichbare Umweltkosten verursacht wie die Fischproduktion. "Bezieht man jedoch die Umwelteffekte auf die verfügbaren Mengen an Omega-3-Fettsäuren, so schneidet vor allem Fisch aus Aquakultur schlechter ab", sagt Schade. Vorteil der Algenkultivierung ist der geringe Flächenverbrauch, sogar unfruchtbare Böden können genutzt werden. Sowohl offene Teiche als auch der Futteranbau für Aquakulturen benötigen dagegen sehr große Flächen. Insbesondere in Deutschland beliebte Fischarten, wie Lachs und Pangasius, stammen meist aus Aquakulturen und sind daher mit erheblichen Umweltbelastungen verbunden. Aber auch der Alaska-Seelachs aus Wildfang zeigt für alle Umweltindikatoren schlechtere Werte als die Mikroalgen.

"Mikroalgen sollen und können Fisch als Nahrungsmittel nicht komplett ersetzen. Aber wenn Mikroalgen sich als Nahrungsmittel etablieren würden, hätten wir eine zusätzliche hervorragende umweltfreundliche Quelle für langkettige Omega-3-Fettsäuren", sagt Meier. Die Algen werden bereits als Nahrungsergänzungsmittel in Pulver- oder Tablettenform und als Zusatz zu Lebensmitteln wie Nudeln oder Müsli verwendet. Zum einen könnte so die bereits bestehende Lücke in der globalen Versorgung mit Omega-3-Fettsäuren verkleinert werden. Zum anderen würde das eine erhebliche Entlastung für die Weltmeere bedeuten.

Die Studie wurde im Rahmen des Verbundprojekts "Neue Algenarten als nachhaltige Quelle für bioaktive Nährstoffe in der Humanernährung" (NovAL) vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Im Forschungsverbund sind neben der MLU die Hochschule Anhalt sowie die Universität Leipzig und die Friedrich-Schiller-Universität Jena engagiert.
Quelle:                                                                                                                                                                                                                      Ronja Münch Pressestelle                                                                                                                                                                                        Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Sandmücke ist in Süddeutschland auf dem Vormarsch

Die Sandmücke ist in Süddeutschland auf dem Vormarsch. Die Klaus Tschira Stiftung fördert eine Promotion an der Uni Heidelberg zu Ausbreitung und Gefährlichkeit der von ihr übertragenen Krankheiten. Heidelberg/Speyer. Sie sind nur wenige Millimeter groß, stark behaart, haben aufrechte V-förmige Flügel, beigefarbene Körper und schwarze Knopfaugen: Sandmücken. Manch einer hat im Mittelmeerurlaub schon üble Bekanntschaft mit den fürchterlich juckenden Pusteln im Gesicht, im Nacken, an Armen oder Beinen gemacht. Obwohl die Mücken eher unscheinbar aussehen, sind die von ihnen übertragenen Krankheiten tückisch. Seit rund 20 Jahren schicken sich die Plagegeister an, auch nördliche Gefilde zu erobern. Wie weit sie dabei gekommen sind, wo sie vorkommen und welche Gefahr von ihnen und den von ihnen transportierten Krankheitserregern ausgeht, untersucht Sandra Oerther in ihrer von der Klaus Tschira Stiftung geförderten Doktorarbeit. Sowohl das Überträgerpotential als auch die Art der Virus- und Parasiten-Last wurden dabei unter die Lupe genommen. Die gelernte Krankenschwester, die Biotechnologie und später Global Health studierte, hatte stets eine klare Devise: „Wenn ich promoviere, dann nur mit einem Thema, das mich richtig inspiriert und herausfordert.“ Ein solches hat Sandra Oerther mit den Sandmücken gefunden. 1999 wurden Exemplare erstmals in Deutschland entdeckt. Die Fundorte befinden sich vor allem in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz. Jetzt scheinen sie sich im Zuge des Klimawandels auszubreiten. Damit könnten auch bislang unbekannte Krankheiten in der Region Einzug halten. Sicher ist schon jetzt, dass sich die Lebensbedingungen für die Sandmücken dank steigender Jahresmitteltemperaturen und warmer Sommernächte beträchtlich verbessert haben. In den Jahren 2015 bis 2020 gingen der Doktorandin ungefähr 150 Individuen in die Falle. Gefunden wurden die Sandmücken an allen bereits bekannten Orten sowie 15 zusätzlichen. „Sie sind weiter verbreitet als bisher angenommen“, bilanziert sie ihre Ergebnisse, „und wo sie einmal waren, findet man sie in der Regel wieder.“ Das Forschungsgebiet von Sandra Oerther ist dabei ebenso spannend wie knifflig. Denn die Lebensweise der Sandmücke (griechisch Phlebotominae, „phlebos“ für Vene und „tome“ für Schnitt) ist speziell. Sie leben in meist unbewohnten, lehmgestampften, alten und naturbelassenen Gebäuden wie Ställen, Scheunen oder Einbuchtungen im Gestein wie dem Isteiner Klotz. Gemeinsam haben diese Orte, dass sie windgeschützt sind und in der Regel eine höhere Luftfeuchtigkeit aufweisen als die Umgebung. Die nachtaktive weibliche Sandmücke ist ein so genannter Pool-Sauger, das heißt, der Stich dauert etwa drei bis fünf Minuten und dabei entsteht ein kleines Loch; das entstandene Reservoir aus Blut und Lymphe wird dann von ihr aufgesaugt. Aktiv ist sie in den Monaten von Ende Juni bis August. Die Eier, werden an feuchten Stellen auf dem Erdboden oder auch Gemäuerritzen abgelegt. Im Gegensatz zu den Stechmücken (Familie Culicidae) brauchen Phlebotomen-Weibchen nicht zwingend eine Blutmahlzeit, um Eier legen zu können. Zur Ernährung werden meist Zucker oder Pflanzensäfte bevorzugt. Wie bei allen blutsaugenden Insekten geht auch bei der Sandmücke die größte Gefahr von ihrer Rolle Funktion als Überträgerin von Viren, Bakterien und Parasiten aus. Sandra Oerther hat bei ihren Untersuchungen neben den Phleboviren (unter anderem das Toskana-Virus) vor allem die Leishmaniose in den Blick genommen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation liegt die Zahl der Neuerkrankungen an Leishmaniose bei jährlich rund zwei Millionen Menschen weltweit. Hierbei werden von Parasiten, den sogenannten Leishmanien, im Körper von Menschen, aber auch Hunden, Katzen oder Pferden Gewebeschäden angerichtet. Je nach Art und Schweregrad der Erkrankung können Leishmanien neben Haut und Schleimhaut auch Milz, Leber, Knochenmark sowie Lymphknoten schädigen. Der Schweregrad der Erkrankung und das Krankheitsbild richten sich nach Erregerart, Schwere des Befalls und Abwehrkraft der Infizierten. Die Leishmaniose zeigt bei Mensch und Tier meist unterschiedliche Krankheitsbilder. Die Erreger sind schon da. Etliche aus Südeuropa nach Deutschland gerettete Hunde sind an Leishmaniose erkrankt. Zumindest theoretisch könnten sie via Sandmücken den Erreger übertragen. Aber auch beim Menschen gab es in Deutschland in den letzten Jahren bereits einige Fälle, sowohl importierte als auch Fälle, von denen ein Auslandsaufenthalt nicht bekannt war. Bei den Untersuchungen von Sandra Oerther gab es zumindest einen Grund zur Entwarnung. Es wurden von ihr bislang nur Sandmücken der Art Phlebotomus mascittii entdeckt. Und die wiederum sind zur Fortpflanzung nicht unbedingt auf eine Blutmahlzeit angewiesen. Schlecht für die Leishmanien, die nur dann übertragen werden, wenn eine Sandmücke erst einen infizierten Wirt und dann einen Gesunden sticht. Was aber heute schon übertragen werden könnte, sind Viren. Das Toskana-Fieber beispielsweise – eine grippeähnliche Erkrankung, die zu Hirnhautentzündung führen kann. „Wenn“, so die Forscherin, „neu auftretende Krankheitserreger frühzeitig erkannt werden und der Modus der Übertragung bekannt ist, können präventive Kontrollmechanismen besser entwickelt, untersucht und umgesetzt werden.“ Derzeit können nur die gängigen Mittel des Mückenschutzes empfohlen werden. „Eine wirksame, interdisziplinäre Zusammenarbeit wird entscheidend sein, um solchen Bedrohungen der Gesundheit in Zukunft begegnen zu können“, sagt die Geschäftsführerin der Klaus Tschira Stiftung, Beate Spiegel. „Wir freuen uns“, so Spiegel weiter, „dass wir damit einen interdisziplinären Ansatz in der Forschung zum Wohle der Menschen fördern können.“ Antragsteller waren das Institut für Dipterologie und die Gesellschaft zur Förderung der Stechmückenbekämpfung in Speyer sowie die Universität Heidelberg.

Quelle: 
Kirsten Baumbusch Medien und Kommunikation
Klaus Tschira Stiftung gGmbH