Donnerstag, 27. Juni 2019

Die frühe Geschichte der Neandertaler in Europa

Forschende haben am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig Teile des Erbguts von zwei etwa 120.000 Jahre alten Neandertalern aus Deutschland und Belgien sequenziert. Die Analysen dieser Erbgut-Sequenzen ergaben, dass die letzten Neandertaler, die vor etwa 40.000 Jahren lebten, zumindest teilweise von diesen etwa 80.000 Jahre älteren europäischen Neandertalern abstammen. Im Erbgut des 120.000 Jahre alten Neandertalers aus Deutschland fanden die Forschenden außerdem Hinweise auf eine mögliche Abstammung von einer isolierten Neandertalerpopulation oder von Verwandten des modernen Menschen.
Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben Zellkern-DNA aus dem Oberschenkelknochen eines männlichen Neandertalers, der 1937 in der Hohlenstein-Stadel-Höhle in Deutschland entdeckt wurde, und aus dem Oberkieferknochen eines Neandertalermädchens gewonnen, das 1993 in der Scladina-Höhle in Belgien gefunden wurde. Beide Neandertaler lebten vor etwa 120.000 Jahren, sind also älter als die meisten anderen Neandertaler, deren Erbgut die Forschenden bisher analysiert haben.
Analysen der Zellkern-Genome der beiden Individuen ergaben, dass diese frühen Neandertaler aus Westeuropa enger mit den letzten Neandertalern verwandt waren, die rund 80.000 Jahre später in derselben Region lebten, als mit Neandertalern, die etwa zur selben Zeit wie die beiden Westeuropäer in Sibirien lebten. "Das Ergebnis ist wirklich außergewöhnlich und steht in starkem Kontrast zu der turbulenten Evolutionsgeschichte des modernen Menschen, die durch Austausch, Vermischung und Aussterben von Populationen geprägt ist", sagt Kay Prüfer, der die Studie leitete.
Im Gegensatz zum Erbgut aus dem Zellkern unterscheidet sich das mütterlicherseits vererbte mitochondriale Erbgut des Neandertalers aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle deutlich von dem des späteren Neandertalers aus derselben Region. Außerdem unterscheidet es sich mit mehr als 70 Mutationen von den bekannten mitochondrialen Genomen anderer Neandertaler, wie eine frühere Studie zeigte. Die Forschenden vermuten daher, dass frühe europäische Neandertaler DNA von einer bisher noch nicht beschriebenen Population geerbt haben könnten. "Bei dieser unbekannten Population könnte es sich entweder um eine isolierte Neandertalerpopulation handeln, die noch nicht entdeckt wurde, oder sie könnte von einer potenziell größeren Population aus Afrika stammen, die mit dem modernen Menschen verwandt ist", erklärt der Leiter der Untersuchung Stéphane Peyrégne.

Sandra Jacob Presse- und Öffentlichkeitsarbeit                                                                                Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Oberschenkelknochen eines männlichen Neandertalers aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle in Deutschland.

Oberschenkelknochen eines männlichen Neandertalers aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle in Deutschland.
© Oleg Kuchar, Museum Ulm
Oberkieferknochen eines Neandertalermädchens aus der Scladina-Höhle in Belgien.
Oberkieferknochen eines Neandertalermädchens aus der Scladina-Höhle in Belgien.
© J. Eloy, AWEM, Archéologie andennaise

Mittwoch, 26. Juni 2019

(K)ein Platz für Wölfe?

Wölfe lösen beim Menschen gleichermaßen Angst und Faszination aus. Das Raubtier wird bei Nutztierhaltern, Jägern, Naturschützern und Politikern kontrovers diskutiert. Michelle Müller hat sich in ihrer Masterarbeit mit den Habitat-Ansprüchen sowie dem Konfliktpotenzial der Wölfe beschäftigt. In der aktuellen Ausgabe des Forschungsmagazins „Forschung Frankfurt“ zeigt sie Lösungsansätze auf.
Menschen hatten den Wolf in Europa fast vollständig ausgerottet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten Einzeltiere von Polen aus wieder in die Bundesrepublik ein. Doch meist wurden sie abgeschossen oder überfahren. Erst als der Wolf nach der Wiedervereinigung 1990 auch in den neuen Bundesländern unter Naturschutz gestellt wurde, konnte er sich in Deutschland langfristig wieder ansiedeln. 2017/2018 lebten in Deutschland 73 Rudel und 31 Paare, verteilt auf die Bundesländer Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Zurzeit wächst die Wolfspopulation in Deutschland jährlich um etwa 30 Prozent. „Für die Annahme, Wölfe würden ihre Scheu gegenüber Menschen verlieren, wenn sie nicht bejagt werden, gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg“, erklärt Michelle Müller, die an der Goethe-Universität Physische Geographie studierte. Während eines Praktikums bei LUPUS, dem Institut für Wolfsmonitoring und -forschung in Deutschland, lernte sie, dass das größte Konfliktpotential im Zusammenleben von Mensch und Wolf die Nutztierrisse sind.
Mit der Rückkehr der Wölfe musste die Art der Nutztierhaltung wieder an die Anwesenheit des Räubers angepasst werden. „Gezieltes Wolfsmanagement ist notwendig, um Konflikte zwischen Menschen, ihren Nutztieren und den Wölfen zu verhindern“, weiß Michelle Müller aus der Forschung für ihre Masterarbeit. Die Bundesländer erfassen Daten zum Vorkommen der Art und der von ihr verursachten Schäden. Managementpläne regeln die staatliche Förderung von Schutzmaßnahmen, die bis zu 90 Prozent beträgt. Sollte dennoch ein Tier nachweislich vom Wolf gerissen worden sein, erhält der Halter eine Ausgleichszahlung.
Den effektivsten Schutz bieten Herdenschutzhunde in Verbindung mit Elektrozäunen. Die Hunde leben hierbei dauerhaft in der Herde. Sie sind groß und kräftig genug, um Wölfe passiv durch Imponiergehabe zu vertreiben. Elektrozäune sollten straff gespannt sein und eine Stromstärke von mindestens 3 000 Volt aufweisen. Empfohlen wird eine Höhe von 120 cm. Bisher haben Wölfe nur in wenigen Fällen empfohlene Schutzmaßnahmen wiederholt überwunden. „Häufig sind Nutztierverluste auf falsch eingesetzte Schutzmaßnahmen zurückzuführen“, sagt Michelle Müller.

Mittwoch, 19. Juni 2019

Natürliches Insektizid schadet dem Grasfrosch nicht

Forschungsteam der Universität Tübingen prüft Alternative zu künstlichen Insektiziden als Mittel zur Stechmückenbekämpfung ‒ Kein Hinweis auf Schädigung von heimischen Amphibien
Weltweit ist ein starker Rückgang der Amphibien zu beobachten. Dazu tragen unter anderem künstliche Insektizide bei, die eigentlich Insekten als Pflanzenschädlinge oder Krankheitsüberträger eindämmen sollen. Eine Alternative bieten natürliche Insektizide, die von Bakterienstämmen produziert und bereits seit Jahrzehnten gezielt gegen Schadinsekten eingesetzt werden. Zuletzt kamen jedoch Zweifel auf, ob die von Bacillus thuringiensis-Bakterien produzierten Wirkstoffe für Frösche und andere Lurche tatsächlich harmlos sind. Dies ist der Fall, wie nun eine Studie bestätigt: Dr. Mona Schweizer, Lukas Miksch, Professor Heinz Köhler und Professorin Rita Triebskorn vom Institut für Evolution und Ökologie der Universität Tübingen haben am Beispiel von Grasfröschen aus dem Oberrhein die Verträglichkeit eines natürlichen Insektizids in Laborversuchen überprüft.

Sie stellten bei dem Mittel, das in der Region gegen Stechmücken eingesetzt wird, keine negativen Auswirkungen auf die Kaulquappen des Grasfrosches fest. Die Forscher halten die Insektizide aus Stämmen von Bacillus thuringiensis deshalb weiterhin für eine sinnvolle Alternative zu künstlichen Mitteln. Ihre Studie wurde in der Fachzeitschrift Ecotoxicology and Environmental Safety veröffentlicht.

Künstliche Insektizide, die weltweit in großen Mengen ausgebracht werden, sind häufig nicht auf einzelne Schädlingsarten abgestimmt und beeinträchtigen so andere Wildtiere. Zudem fördert ihr Einsatz die Ausbildung von Resistenzen bei den Schädlingen, die bekämpft werden sollen. „Am Oberrhein werden seit Jahrzehnten natürliche Gifte gegen die Larven von Stechmücken eingesetzt“, sagt Rita Triebskorn. In den Feuchtgebieten entwickeln sich zur gleichen Zeit mit den Mücken, häufig im März, die Kaulquappen des Grasfrosches aus dem abgelegten Laich. „Es lässt sich daher nicht vermeiden, dass auch die Frösche mit den Insektengiften in Kontakt kommen.“

Laborversuche mit stark erhöhter Dosis

Das Forschungsteam setzte Kaulquappen des Grasfrosches im Labor üblichen Mengen des Insektizids aus dem Bakterienstamm Bacillus thurigiensis israelensis aus, wie sie auch im Freiland ein-gesetzt werden, sowie der zehnfachen und hundertfachen Menge. Die Kaulquappen wurden auf Biomarker untersucht, die Stress, negative Effekte auf das Nervensystem oder den Stoffwechsel anzeigen. Außerdem prüften die Wissenschaftler, ob das Darmgewebe Veränderungen aufwies. „Wir konnten keine negativen Einflüsse des Bakterienwirkstoffs auf Gesundheit oder Entwicklung der Kaulquappen feststellen“, fasst Triebskorn die Ergebnisse zusammen. Es sei wichtig, eventuelle Nebeneffekte der Insektenbekämpfung vor allem auch bei Amphibien zu überprüfen. Durch ihren Lebenslauf ‒ vom Larvenstadium im Wasser bis zum Erwachsenenleben an Land ‒ seien sie Stresseinflüssen in vielen Lebensräumen ausgesetzt. „Nach unseren Ergebnissen halten wir die am Oberrhein eingesetzten natürlichen Insektenbekämpfungsmittel für sicher“, sagt die Wissenschaftlerin.
Dr. Karl Guido Rijkhoek Hochschulkommunikation           Eberhard Karls Universität Tübingen
Kaulquappe des Grasfrosches (Rana temporaria).
Kaulquappe des Grasfrosches (Rana temporaria).
Foto: Dr. Mona Schweizer

Milliarden Menschen immer noch ohne sauberes Trinkwasser

Genf - Mehr als zwei Milliarden Menschen weltweit haben nach einem Fortschrittsbericht der Vereinten Nationen weiterhin keine sichere Versorgung mit sauberem Trinkwasser.
2,2 Milliarden Menschen sind betroffen, das sind 28,6 Prozent der Weltbevölkerung. Gut vier Milliarden Menschen hätten noch keine Toiletten mit angemessener Entsorgung der Fäkalien, berichteten das UN-Kinderhilfswerk (Unicef) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Dienstag in Genf.

«Nur Zugang zu Wasser zu haben reicht nicht», meinte Kelly Ann Naylor von Unicef. «Kinder und Familien in armen und ländlichen Gegenden sind in Gefahr, vernachlässigt zu werden. Regierung müssen in diese Gegenden investieren, um wirtschaftliche und geografische Gräben zu überwinden.»

Mit sicherer Versorgung meinen die Organisationen Trinkwasser, das nicht verunreinigt und jederzeit direkt am Wohnort vorhanden ist, sowie Toiletten mit nachhaltiger Fäkalien-Entsorgung.

Die Organisationen unterscheiden dies von einer Minimalversorgung, bei der zwar eine geschützte Trinkwasserquelle im Umkreis von weniger als 30 Minuten Fußweg vorhanden, das Wasser aber nicht mit Sicherheit sauber ist. Bei einer Minimalversorgung sind zwar Toiletten vorhanden, die nicht mit anderen Familien geteilt werden müssen. Aber die Fäkalien werden nicht richtig entsorgt.

«Wenn Länder nicht größere Anstrengungen (...) machen, werden wir weiter mit Krankheiten leben müssen, die schon vor langem in die Geschichtsbücher gehört hätten», meinte Maria Neira von der WHO. Dazu gehörten Typhus, Hepatitis A, Cholera und andere Durchfallerkrankungen sowie Wurmerkrankungen und bakterielle Augenentzündungen.

Nach Angaben der UN sterben jeden Tag fast 1.000 Kinder unter fünf Jahren an Krankheiten, die durch unsauberes Trinkwasser, schlechte Toiletten oder mangelnde Hygiene verursacht werden. Die gesamte Weltbevölkerung mit sauberem und bezahlbarem Trinkwasser und adäquaten Toiletten zu versorgen gehört zu den UN-Entwicklungszielen, die bis 2030 erreicht werden sollen.

Bei der Minimalversorgung sei zwar seit der Jahrtausendwende viel erreicht worden. Heute hätten 1,8 Milliarden mehr Menschen Wasser im Umkreis von 30 Gehminuten als noch vor knapp 20 Jahren. 2,1 Milliarden Menschen zusätzlich hätten Latrinen, die nicht mit anderen Familien geteilt werden müssten. Bei Trinkwasser müssten aber heute immer noch 785 Millionen Menschen selbst auf diese Minimalstandards verzichten, bei Toiletten zwei Milliarden Menschen.

Im Jahr 2000 hätten noch 21 Prozent der Menschen weltweit ihre Notdurft unter freiem Himmel verrichtet, heute seien es nur noch 9 Prozent, heißt es in dem Bericht. Aber in 39 Ländern sei die Zahl der Menschen ohne Toiletten sogar gestiegen, vor allem in Afrika südlich der Sahara, wo das Bevölkerungswachstum besonders groß sei.

Zur Zeit leben schätzungsweise 7,7 Milliarden Menschen auf der Erde. Die Zahl könnte einer neuen UN-Schätzung um das Jahr 2100 mit fast elf Milliarden Menschen ihren Höhepunkt erreichen. Bis 2050 werde die Zahl wahrscheinlich auf 9,7 Milliarden anwachsen, geht aus dem neuen UN-Weltbevölkerungsbericht vom Montag hervor.

Über die Entwicklung nach 2100 enthält der Bericht keine Aussagen. Nach den Schätzungen wird etwa die Hälfte der neuen Erdenbürger in neun Ländern geboren, vier davon, Nigeria, Kongo, Äthiopien und Tansania, sowie in Indien, Pakistan, Indonesien, Ägypten und den USA.
dpa

Montag, 17. Juni 2019

Nature Plants: Agrarwissenschaften Züchtung fördert nachhaltige Weizenproduktion

Weizen ist die weltweit am häufigsten angebaute Kulturpflanze. Für die globale Nahrungssicherung spielen die hohen Erträge im intensiven europäischen Weizenanbau eine ausschlaggebende Rolle. Doch wie können die nötigen Produktionsmengen von qualitativ hochwertigen Nahrungspflanzen wie Weizen trotz eines deutlich reduzierten Einsatzes von agrochemischen Produkten wie Dünger und Pflanzenschutzmitteln erreicht werden? Im Sinne einer nachhaltigeren Landwirtschaft gewinnt diese Frage zunehmend an Bedeutung. Wichtige Antworten liefern die Ergebnisse einer großangelegten Studie verschiedener Universitäten und Einrichtungen, die unter der Federführung der Professur für Pflanzenzüchtung (Prof. Dr. Rod Snowdon) der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) am 17. Juni 2019 unter dem Titel Breeding improves wheat productivity under contrasting agrochemical input levels („Züchtung fördert die Produktivität von Weizen bei unterschiedlichen agrochemischen Einsatzmengen“) in der Zeitschrift „Nature Plants“ veröffentlicht worden sind. 

In der öffentlichen Diskussion wird oft bemängelt, dass moderne Pflanzensorten aufgrund der starken Ausrichtung auf Ertragssteigerung nur noch im intensiven Anbau leistungsfähig seien. Älteren Sorten wird dagegen eine bessere Anpassungs- und Leistungsfähigkeit in Anbausystemen mit reduziertem Input zugesprochen. Jedoch fehlten bislang empirische Grundlagen für diese Aussagen, aus denen Entscheidungshilfen zur Züchtung bestimmter Sorten für einen nachhaltigeren Anbau entwickelt werden könnten. Um diese Wissenslücke zu schließen, haben Agrarwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an verschiedenen Standorten den Einfluss des Zuchtfortschrittes auf das Ertragspotenzial unter nachhaltigeren Anbauszenarien unter die Lupe genommen. 

In einer der bisher größten derartigen Untersuchungen weltweit wurden fast 200 bedeutende westeuropäische Weizensorten aus den letzten 50 Zulassungsjahren mehrjährig an diversen Standorten angebaut. Das Ungewöhnliche an der Studie: Die Leistung jeder Sorte wurde nicht nur unter optimalen – also intensiven – Anbaubedingungen eingehend geprüft, sondern an jedem Standort auch im direkten Vergleich zu Varianten mit stark reduzierter Stickstoffdüngung bzw. ohne Pflanzenschutzbehandlungen. So konnten die Forscherinnen und Forscher die Leistungen der Sorten unter unterschiedlichen Anbauintensitäten direkt miteinander vergleichen und den langjährigen Zuchtfortschritt in einen direkten Zusammenhang mit der Ressourceneffizienz und dem Pflanzenschutzbedarf bringen.

Die Studienergebnisse entsprechen einerseits den Erwartungen: Im intensiven Anbau verzeichneten die Agrarforscherinnen und -forscher eine durchschnittliche Ertragssteigerung neuer Sorten in Höhe von etwa 32 kg/ha pro Zulassungsjahr. Dies erklärt einen großen Anteil der anhaltenden Produktionszunahmen der letzten 50 Jahre und spiegelt sich auch in den Bestimmungen der Sortenzulassung wider: Für die Registrierung neuer Sorten setzen die amtlichen Zulassungsbehörden eine Verbesserung gegenüber früheren Sorten voraus.

Eine große Überraschung hielten jedoch die Ertragsdaten aus den Varianten mit reduzierten Agrarchemieeinsätzen bereit: Hier fiel der züchtungsgetriebene Ertragsfortschritt wider Erwarten nicht geringer aus, sondern war ebenso hoch oder sogar noch höher als im intensiven Anbau. Auffällig: Es zeigten keineswegs die älteren, sondern durchweg die neuesten Sorten die höchste Leistung – und dies auch ohne Fungizid-Behandlung oder bei reduzierter Düngung. Die neueren Weizensorten zeichneten sich insgesamt durch verbesserte Krankheitsresistenzen, erhöhte Nährstoffnutzungseffizienz und sogar durch die stärksten Ertragsleistungen unter Dürrestress aus. Offensichtlich – so die Erklärung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – hat die intensive Züchtung auf Ertrag indirekt auch die Gesamtleistung der Sorten unter diversen Stress- oder Mangelsituationen verbessert. Neuere Sorten wiesen sich auch durch eine bessere Ertragsstabilität aus.

Dank eingehender Analysen des Erbguts aller Sorten konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch die genetischen Hintergründe dieses Phänomens aufdecken: Durch die langjährige Selektion auf Ertrag unter äußerst unterschiedlichen Anbaubedingungen fand offensichtlich im Laufe der Zeit eine ständige Akkumulation von vorteilhaften Genvarianten statt. Deren Effekte waren im Einzelnen zwar jeweils sehr klein, in der Summe jedoch wirkte ihre stetige Zunahme positiv auf Nachhaltigkeitsmerkmale wie die Wasser- oder Nährstoffeffizienz. Darüber hinaus war zu erkennen, dass im Genpool moderner Sorten noch viel genetisches Potenzial für weitere Verbesserungen steckt. 

Für den europäischen Weizenanbau im Zeichen des Klima- und Agrarpolitikwandels konnten die Autorinnen und Autoren der Studie aufgrund dieser Kenntnisse eine klare Anbauempfehlung aussprechen: Eine ressourceneffiziente und nachhaltige Landwirtschaft unter reduziertem Agrarchemieeinsatz funktioniert nur unter Einsatz der neuesten, leistungsfähigsten Sorten. 


Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU)

Weizenähren aus 50 Jahren Zuchtfortschritt
Weizenähren aus 50 Jahren Zuchtfortschritt
Foto: Till Rose (Co-Autor, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)



Neue Weizensorten bewähren sich auch unter widrigen Anbaubedingungen

(Quedlinburg) Über Jahrzehnte sind in Westeuropa die Weizenerträge bedingt durch den Züchtungsfortschritt und eine Intensivierung der Landwirtschaft gestiegen. Diese Intensivierung ist besonders durch eine verbesserte Nährstoffversorgung und die Möglichkeit, durch Pflanzenschutz Ertragsverluste durch Schädlinge und Krankheiten zu verhindern, gekennzeichnet. Doch was, wenn sich die Anbaubedingungen verändern, d.h. sich das Klima ändert, die Düngergaben reduziert werden müssen und Pflanzenschutzmittel nicht mehr wie bisher zur Verfügung stehen? Haben dann moderne Hochleistungssorten gegenüber alten Sorten das Nachsehen?

„Es ist ein Mythos, dass alte Sorten unter extensiven Bedingungen besonders gut abschneiden. Das haben unsere Versuche gezeigt“, sagt Dr. Holger Zetzsche vom Julius Kühn-Institut (JKI) in Quedlinburg. Das JKI ist Partner in einem Großprojekt, bei dem 191 Weizensorten an sechs Standorten unter verschiedenen Bedingungen über drei Jahre angebaut wurden. Einer dieser Standorte war der JKI-Hauptsitz in Quedlinburg, der mit seiner Schwarzerde über den besten Ackerboden im Projekt verfügte. Darüber hinaus prüfte ein JKI-Team am Standort Groß Lüsewitz für alle Projektpartner die Qualität des Ernteguts hinsichtlich Proteingehalt und Backfähigkeit.

Wie erwartet, bildeten die Versuche den Züchtungsfortschritt aus den vergangenen 50 Jahren ab: Die neuesten Sorten lieferten die höchsten Erträge und eine durchschnittliche Ertragssteigerung von etwa 32 kg/ha pro Jahr. Versuche mit reduziertem Stickstoffeinsatz und ohne Pflanzenschutzmittel zeigten überraschenderweise keinen geringeren, sondern sogar einen höheren Ertragszuwachs als im intensiven Anbau. Auch hier brachten die neuesten Weizensorten die höchste Leistung. Diese Sorten zeichneten sich insgesamt durch verbesserte Krankheitsresistenzen sowie erhöhte Nährstoffnutzungseffizienz aus und zeigten unter Dürrestress ebenfalls höhere Erträge als alte Sorten. 

„Unsere Ergebnisse bestätigen die Züchtungsstrategien der vergangenen Jahrzehnte und auch das behördliche Zulassungsverfahren, das für die Zulassung einer neuen Sorte einen landeskulturellen Wert fordert, in den neben der Ertragsleistung auch Resistenzen eingehen“, sagt Prof. Dr. Frank Ordon, Präsident des JKI und zugleich Leiter des JKI-Instituts für Resistenzforschung und Stresstoleranz. Einen solchen landeskulturellen Wert stellt zum Beispiel eine erhöhte Krankheitsresistenz dar, der vor dem Hintergrund künftiger Produktionsbedingungen eine besondere Bedeutung zukommt. Offensichtlich – so die Erklärung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – hat die Züchtung nicht nur den Ertrag, sondern auch die Gesamtleistung der Sorten unter diversen Stress- oder Mangelsituationen verbessert. Neuere Sorten wiesen auch eine bessere Ertragsstabilität auf.

Eingehende Analysen des Erbguts aller Sorten offenbarten die genetischen Hintergründe des allgemein besseren Abschneidens moderner Sorten: Durch die langjährige Selektion auf Ertrag unter äußerst unterschiedlichen Anbaubedingungen fand offensichtlich im Laufe der Zeit eine ständige Akkumulation von vorteilhaften Genvarianten statt. Deren Effekte waren zwar im Einzelnen jeweils sehr klein, in der Summe jedoch wirkten sie positiv auf Nachhaltigkeitsmerkmale wie Wasser- oder Nährstoffeffizienz. Darüber hinaus zeigte sich, dass im Genpool moderner Sorten noch Potenzial für weitere Verbesserungen steckt. Holger Zetzsche weist aber darauf hin, dass die pflanzengenetischen Ressourcen alter Sorten eine wichtige Quelle für die künftige Verbesserung von Resistenzeigenschaften sind.

Julius Kühn-Institut, Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen 


Anbauversuch Weizensortiment auf JKI-Versuchsfeld in Quedlinburg

Anbauversuch Weizensortiment auf JKI-Versuchsfeld in Quedlinburg
A.Serfling/JKI

Freitag, 14. Juni 2019

Statement: Cannabis als Medizin

Prof. Dr. Heino Stöver vom Institut für Suchtforschung der Frankfurt UAS nimmt Stellung zum Einsatz von Cannabis in der Medizin und dem Recht von Kranken auf dieses Medikament
Mit dem am 10. März 2017 in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften hat der Gesetzgeber die Möglichkeiten zur Verschreibung von Cannabisarzneimitteln erweitert. Prof. Dr. Heino Stöver vom Institut für Suchtforschung der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) ist erstaunt, dass das Gesetz keine Indikationsbereiche festgelegt hat. Dies ist aus seiner Sicht für Deutschland sehr ungewöhnlich, da man sonst in Gesetzen sehr detaillierte Vorgaben mache. Stöver sieht darin für Cannabispatientinnen und -patienten und deren behandelnde Ärztinnen und Ärzte große Vorteile, da deren Handlungsspielraum somit vergrößert wurde. Bis Deutschland zu einer Regelversorgung mit Cannabis gekommen ist, sei es aber noch ein weiter Weg. Während im Vorfeld des Gesetzeserlasses von rund 2.000 betroffenen Patientinnen und Patienten ausgegangen wurde, sind es mittlerweile vermutlich über 40.000 Betroffenen, die Cannabis als Medizinprodukt nutzen. Im zweiten Jahr nach der Gesetzesänderung hat die Zahl der Cannabisrezepte weiter deutlich zugelegt: Man kann daher heute von etwa 15.000 Patienten ausgehen, die eine Kostenerstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen erhalten. Weitere 15.000-30.000 Patienten erhalten vermutlich Privatrezepte mit oder ohne Kostenerstattung (Quelle: ACM-Mitteilungen vom 10. März 2019 unter https://www.cannabis-med.org/german/acm-mitteilungen/ww_de_db_cannabis_artikel.p...).

„Cannabis ist in Deutschland leider noch kein Medikament wie jedes andere. Mit dem Cannabis als Medizin-Gesetz wurden jedoch sehr gute rechtliche Voraussetzungen geschaffen“, so Stöver. Deutschland stehe mit dem Gesetz bei diesem Thema weltweit an der Spitze – zumindest auf dem Papier sei die gesetzliche Neuregelung der Therapie mit Cannabis-Medikamenten beispiellos. Das Besondere an der gesetzlichen Regelung ist die Möglichkeit einer Verschreibung durch jede Ärztin/jeden Arzt in Deutschland in Kombination mit dem Anspruch auf eine Kostenerstattung durch die Krankenkassen.

„In Deutschland könnten mehr als eine Millionen Menschen von einer Therapie mit Cannabis profitieren“, schätzt Stöver. „Ein zentrales Problem aber ist, dass in den meisten Fällen weder die Patientinnen und Patienten noch die Ärztinnen und Ärzte wissen, dass Cannabis als Medizin helfen könnte. Die Wissenslücke in der Ärzteschaft ist ein Flaschenhals beim Einsatz von Cannabis in Deutschland. Zahlreiche Ärztinnen und Ärzte lehnen eine Behandlung mit Cannabis ab, weil sie diesem skeptisch gegenüberstehen, verunsichert sind, Angst vor negativer Reputation haben oder die bürokratischen Hürden fürchten.“

„Erst wenn es für jeden, dem Cannabis helfen könnte, eine reale Therapieoption mit vielfältigen Cannabis-Medikamenten gibt, haben wir eine Normalität und hierdurch eine Regelversorgung erreicht“, betont Stöver. Der Weg von der Ausnahmemedizin in die Regelversorgung ist jedoch lang. Gegenwärtig wird die Versorgung mit Cannabis noch aus den Niederlanden und Kanada gedeckt. In den kommenden Jahren soll medizinisches Cannabis dann auch in Deutschland angebaut werden. Wann genau, steht noch in den Sternen. Das Gesetz sieht gemäß den Vorgaben des Einheits-Übereinkommens von 1961 über Suchtstoffe der Vereinten Nationen die Einrichtung einer staatlichen Stelle, der so genannten Cannabisagentur, vor. Diese wird den Anbau von Cannabis für medizinische Zwecke in Deutschland steuern und kontrollieren. Im April 2019 wurden erste Zuschläge für den Anbau und die Ernte von insgesamt 7200 kg Cannabis für vier Jahre erteilt. 
„Durch das jahrzehntelange Verbot von Cannabis und dem Verbot damit zu forschen, ist viel Wissen um Cannabis als Medizin verloren gegangen. Es ist essentiell, dieses vergessene Wissen wieder in die Köpfe, in Hochschulen und Lehrbücher zu bringen“, plädiert Stöver. „Die Arzneipflanze Cannabis zeichnet sich durch ein weites Einsatzspektrum aus. Die zahlreichen unterschiedlichen Sorten Cannabis könnten eine ganze Apotheke füllen. Gerade für chronisch kranke Menschen, die über viele Jahre Medikamente einnehmen müssen, sind die vergleichsweise geringen Nebenwirkungen von Cannabis ein Gewinn an Lebensqualität“, betont Stöver. „Cannabis ist vielseitig anwendbar. Die orale Einnahme und das Inhalieren sind nur die beiden gängigsten Anwendungsformen. Möglich sind diverse Rezepturen für die speziellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten von Zäpfchen über Tee bis zu Salben.“

Gemeinsam mit Maximilian Plenert, der selbst ADHS- und Cannabispatient ist und sich die Medikation auf dem Rechtsweg erstritten hat, hat Stöver „Cannabis als Medizin Praxisratgeber für Patienten, Ärzte und Angehörige“ verfasst. Der Ratgeber stellt die erste umfassende Publikation zu dieser Thematik im deutschsprachigen Raum dar. Neben einer Einführung zur Cannabispflanze und deren Wirkung gibt er Antworten auf rechtliche wie medizinische Fragen und zeigt auf, wie man eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse erreichen kann und welche Widerspruchsvorlage man verwenden sollte. Da die Cannabisblüte noch ohne Beipackzettel abgegeben wird, stellt das Werk diesen erstmals für Patientinnen und Patienten zur Verfügung.

Plenert, Maximilian; Stöver, Heino: Cannabis als Medizin Praxisratgeber für Patienten, Ärzte und Angehörige, Fachhochschulverlag Frankfurt am Main 2019, ISBN: 978-3-943787-90-0, 19 Euro (zuzüglich Portokosten)

Gerne steht Prof. Dr. Stöver für Interviews, Fragen und weitere Statements rund um das Thema „Cannabis als Medizin“ zur Verfügung.

Zur Person Stöver:
Prof. Dr. Heino Stöver ist Dipl.-Sozialwissenschaftler und Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt UAS. Er leitet seit über zehn Jahren das Institut für Suchtforschung Frankfurt am Main (ISFF). Stövers Forschungsschwerpunkte sind von großer gesellschaftlicher Bedeutung, da die Zielgruppen seiner Forschung gesundheitlich und teils sozial stark belastet sind und oft zu spät behandelt werden; die späte Behandlung verursacht hohe Kosten und kann zum Tod führen. In den letzten fünf Jahren hat Stöver mehr als 20 Forschungsprojekte für nationale und internationale Auftraggeber durchgeführt und dafür Dritt- und Forschungsfördermittel in Höhe von mehr als 2,5 Mio. Euro eingeworben. Zurzeit leitet er u.a. das Teilprojekt „Evaluation von Maßnahmen zur Schadensminimierung im Hinblick auf offene Drogenszenen“ im Rahmen des BMBF-Verbundvorhabens DRUSEC. Darüber hinaus ist er an mehreren EU-Verbundprojekten beteiligt. Stöver hat beispielsweise am Projekt „Central Asia Drug Action Programme“ mitgewirkt, bei dem eine Beratungs- und Behandlungsstruktur für Drogenkonsumierende in Zentralasien entwickelt wurde und das von der EU Kommission mit insgesamt 900.000 Euro gefördert wurde.

Zum Institut für Suchtforschung (ISFF):
Das Institut für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt UAS arbeitet seit 1997 an der Weiterentwicklung zielgruppenspezifischer und lebensweltnaher Prävention, Beratung und Behandlung von Suchterkrankungen. Es erforscht Sucht in ihren verschiedenen Erscheinungsformen sowie die mit Sucht in Zusammenhang stehenden Probleme und Aspekte. Das Institut fördert den Ausbau von interdisziplinären Beziehungen zu Kooperationspartnern auf nationaler und internationaler Ebene. Forschungsprozesse und -resultate finden in Lehre und Studium Berücksichtigung.
Sarah Blaß Pressestelle
Frankfurt University of Applied Sciences