Das Schweizer Bürgerrecht beruht auf dem Abstammungsprinzip. Auch wer im Ausland zur Welt kommt, erhält es vererbt. Trotzdem verloren Tausende Nachkommen von ausgewanderten Schweizer:innen ihr Bürgerrecht. Eine Petition will dies nun ändern.
Dylan Kunz ist 23, er stammt von Schweizer Ausgewanderten ab. Seine Schweizer Urgrosseltern sind im 19. Jahrhundert aus den Kantonen Solothurn und Thurgau nach Argentinien emigriert.
Seine Großeltern waren Schweizer Staatsangehörige, vier von fünf seiner Onkel sind Schweizer. Sein Vater Ruben und er selbst sind es jedoch nicht. Sein Vater hat das Schweizer Bürgerrecht unwissentlich verloren. Es ist verwirkt, er hat die Fristen verpasst.
Davon erfahren hat die Familie 2021, als sich der Vater 63-jährig per Mail bei der Schweizer Botschaft in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires meldete. Diese teilte ihm mit, dass er kein Schweizer Bürger ist.
«Das war eine riesige Enttäuschung für die ganze Familie. Für meinen Vater war es besonders hart, denn er hatte sein ganzes Leben lang geglaubt, dass er Schweizer sei.» Zu realisieren, dass dem nicht so ist, sei sogar ihm als Sohn ein bisschen peinlich gewesen, erzählt Dylan Kunz. «Mein Vater und ich haben immer allen gesagt: ‹Die Schweiz ist das beste Land der Welt und wir sind Schweizer›!»
Die Geburtsmeldung hat es nie zur Botschaft geschafft
Stets ging die Familie Kunz also davon aus, dass Vater Ruben wie seine älteren Geschwister fristgerecht bei der Schweizer Botschaft in Argentinien angemeldet worden war. Doch damals, nach der Geburt des Vaters 1958, als es noch keine E-Mails gab, wurde die argentinische Post teils noch mit Ross und Wagen befördert und war auch deshalb nicht die zuverlässigste. Die Meldung über die Geburt des Vaters von Dylan Kunz und seines gleichzeitig gemeldeten Bruders hat die Schweizer Vertretung offenbar nicht erreicht, so die enttäuschende Schlussfolgerung der Familie.
Das Gesetz sagt: Wenn eine Person bis zum 25. Lebensjahr (1958 galt noch: bis zum vollendeten 22. Lebensjahr) weder der Schweizer Vertretung gemeldet noch im schweizerischen Personenstandsregister eingetragen wurde, verliert diese die Schweizer Staatsangehörigkeit. Das war bei Ruben Kunz 1980 der Fall, da wurde dieser 22.
Danach hätte er theoretisch noch innerhalb von zehn Jahren ein Gesuch um Wiedereinbürgerung stellen können. Auch diese Möglichkeit hat er verpasst – er nahm ja an, er sei ein Schweizer. So bleibt Dylan Kunz› Vater nur noch eine einzige Möglichkeit, sich wiedereinbürgern zu lassen: Indem er während drei Jahren fix in der Schweiz leben würde. Doch das ist hypothetisch. «Für viele von uns, die in Argentinien leben, ist das nicht nur finanziell unmöglich, sondern auch, weil es aufenthaltsrechtlich schwierig wäre, überhaupt in der Schweiz arbeiten zu können», sagt Sohn Dylan.
Wenn die Kette unterbrochen ist
Und so bleibt nicht nur Dylans Vater der Schweizer Pass verwehrt, sondern auch ihm sowie seinen künftigen Nachkommen. «Hier gibt es eine Kettenabhängigkeit», sagt Bürgerrechts Spezialistin Barbara von Rütte. Sei die Kette einmal unterbrochen, werde es zunehmend schwierig, das Schweizer Bürgerrecht zurückzuverlangen. «Je näher dran am Verlust, desto wahrscheinlicher ist es, die Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen.»
So wie Ruben und Dylan Kunz muss es in den letzten Jahrzehnten Tausenden von Nachkommen von Schweizer Emigrant:innen ergangen sein. «Das Schweizer Bürgerrecht ist sehr stark vom Prinzip des Ius Sanguinis geprägt», sagt von Rütte. Das Bürgerrecht wird also durch Abstammung weitergegeben, der Geburtsort spielt dabei keine Rolle. «Das Gesetz sieht vor, dass man über die Generationen hinweg, wenn man denn diese Anmeldung schafft, das Schweizer Bürgerrecht weitergeben kann», so die Bürgerrechtsexpertin.
Eine grosse Zahl von Nachkommen von Schweizer Emigranten beurteilt die Voraussetzungen, das Schweizer Bürgerrecht weiterzugeben, als zu streng. Und deshalb hat ein Kollektiv rund um Dylan Kunz eine Petition mit Unterschriften von rund 110 Schweizern im Ausland sowie 11’500 Nachkommen von Schweizer Ausgewanderten lanciert. Sie wurde im Juli 2024 zuhanden der Bundesversammlung eingereicht.
«Wir Nachkommen werden diskriminiert»
«Wir fordern die Bundesversammlung auf, das Schweizer Bürgerrecht zu überprüfen und zu reformieren, damit die Nachkommen der Auslandschweizer inkl. 5. Vorfahrengeneration, die Staatsangehörigkeit leichter erwerben können. Diese Reform soll die Vereinfachung der Verfahren und geringere bürokratische Anforderungen einschließen», heisst es im Petitionstext. Das Schweizer Bürgerrecht diskriminiere die Nachkommen von Auslandschweizern durch spezifische Beschränkungen für die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit, heisst es weiter.
«Die Schweiz war bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert ein Auswanderungsland», sagt von Rütte. Deshalb gäbe es heute viele Auslandschweizer, die in der fünften, sechsten Generation im Ausland leben. Viele von ihnen hätten aus verschiedenen Gründen die Staatsbürgerschaft der Schweiz verloren. Viele hätten sie jedoch auch behalten und an ihre Familienangehörigen weitergeben können.
Die Frage stellt sich, ob es denn so schwierig ist, sich bis zum 25. Lebensjahr bei einer Botschaft oder einem Konsulat zu melden. «Es ist ein Problem, das nicht aktuell, sondern historisch bedingt ist», sagt Eduardo Puibusque. Er hat die Petition im Namen der Gruppe «Nacionalidad Suiza Para Descendientes eingereicht.
Natürlich seien die Mitteilungen heute schnell und die Informationen kämen auch schnell an, aber das sei nicht immer so gewesen.
Viele verloren das Bürgerrecht aus Unwissen
«Man muss bedenken, dass die meisten Schweizer Emigranten nicht in den Städten lebten, sondern sich auf dem Land niederließen.» Argentinien ist ein riesiges Land mit grossen Entfernungen und «noch heute ist es schwierig, Argentinien zu durchreisen.»
Die Unkenntnis, verursacht durch schlechten Zugang zu Informationsquellen, führte über viele Jahre zum Verlust der Schweizer Staatsbürgerschaft «und das geschah nicht nur in ländlichen Gebieten», sagt Puibusque. Er spricht dabei unter anderem die verschiedenen Gesetzesänderungen an, die über die Jahrzehnte hinweg verabschiedet wurden.
Auch er musste sich die Schweizer Staatsbürgerschaft zurückerkämpfen. Seine Mutter verlor es bei der Heirat mit einem argentinischen Staatsangehörigen in den 1940er Jahren.
Puibusque aber hatte Glück und profitierte von einer Übergangsbestimmung des Schweizer Bürgerrechts, das ihm und seiner Schwester erlaubte, den Schweizer Pass zurückzuerlangen. Seine drei Kinder und sechs Enkelkinder haben aber keinen Zugang mehr zur Schweizer Staatsbürgerschaft.
«Als mein Status als Schweizer Bürger endlich anerkannt wurde, hatten meine drei Kinder bereits die ‹willkürlich› festgelegte Altersgrenze überschritten», sagt er. Der Zugang zum Schweizer Bürgerrecht kann nur noch unter – für viele Nachkommen – erschwerten Bedingungen zurückerlangt werden.
Die Petition fordert, dass dieser Umstand geändert wird: Die Wiedereinbürgerung – im Idealfall inklusive der fünften Generation Blutsverwandtschaft – der Schweizer Nachkommen im Ausland soll ohne Hürden, wie etwa Alter oder finanzielle Voraussetzung, ermöglicht werden.
«Früher gab es mehr Übergangsbestimmungen, die den Wiedererwerb der Schweizer Staatsbürgerschaft erleichtert haben», sagt von Rütte. Diese betrafen vorrangig alle Schweizer, die das Bürgerrecht wegen der Geschlechterdiskriminierung verloren haben.
Diese Bestimmungen seien unübersichtlich geworden, sodass man sie 2017 konsolidiert und zusammengefasst habe. «Dies auch mit dem Gedanken, dass sich die meisten Fälle, die davon betroffen waren, mit der Zeit erledigt haben sollten.»
Doch dies scheint nicht der Fall zu sein: «Wir sind Onkel, Tanten, Söhne, Töchter, Enkelkinder», sagt Kunz. Sie alle haben das Schweizer Bürgerrecht verloren oder verwirkt. «Wir wollen keinen Nutzen aus der Wiedereinbürgerung ziehen, es geht um unsere Identität und die Verbundenheit zu unserem Heimatland.»
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