Studie unter Leitung der Goethe-Universität
Gut 40 Prozent weniger aktiv waren die Menschen während des ersten Lockdowns, zeigt eine internationale Studie unter Leitung der Goethe-Universität Frankfurt. Auch das psychische Wohlbefinden sank; der Anteil an Menschen mit einem Risiko für Depressionen verdreifachte sich. Das Autorenteam befürchtet langfristige Auswirkungen und fordert, dies künftig zu berücksichtigen.
FRANKFURT. Vor einer versteckten „Pandemie innerhalb der Pandemie“ warnen 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 14 Ländern in zwei aktuellen Veröffentlichungen. Zum einen sei die körperliche Aktivität während der Corona-bedingten Einschränkungen deutlich gesunken, zum anderen habe das psychische Wohlbefinden gelitten. „Regierungen und Verantwortliche für das Gesundheitssystem sollten unsere Erkenntnisse ernst nehmen“, betont das Team unter Leitung von Dr. Jan Wilke vom Institut für Sportwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt.
Rund 15.000 Menschen aus den beteiligten Ländern hatten im Rahmen einer internationalen Erhebung standardisierte Fragebögen beantwortet. Dabei schätzten sie im April/Mai 2020 ihre körperliche Aktivität (13.500 Teilnehmende) oder ihr psychisches und physisches Wohlbefinden (15.000 Teilnehmende) vor und während der Pandemie-bedingten Einschränkungen ein.
Ältere Menschen besonders betroffen
„Die Ergebnisse zeigen einen drastischen Rückgang der körperlichen Aktivität und des Wohlbefindens“, so Wilke. Mehr als zwei Drittel der Befragten konnten ihr übliches Bewegungsniveau nicht aufrechterhalten. Mäßige sportliche Aktivitäten nahmen nach Eigenangaben durchschnittlich um 41 Prozent ab – dazu zählt alles, was Herzschlag und Atmung erhöht, beispielsweise flottes Gehen, Laufen, Radfahren oder auch anstrengende Gartenarbeit.
Ähnlich stark sank mit 42 Prozent der Anteil intensiver Bewegung, bei der man schwitzt und deutlich außer Atem kommt. Die Effekte waren etwas höher bei Berufssportler:innen und besonders aktiven Menschen sowie vergleichsweise Jungen und Alten. Besonders auffällig war der Aktivitäts-Rückgang bei den über 70-Jährigen, die sich zu 56 bis 67 Prozent weniger bewegten als zuvor. „Dabei wissen wir, dass körperliche Inaktivität gerade bei Älteren schon nach zwei Wochen nur noch schwer reversible Änderungen nach sich ziehen kann – beispielsweise beim Körperfettanteil oder der Insulinsensitivität“, warnen die Studienautor:innen.
Bewegung schützt vor Krankheiten und senkt die Sterblichkeit
Die WHO empfiehlt mindestens 150 Minuten mäßige oder mindestens 75 Minuten intensive körperliche Aktivität pro Woche – das erreichten vor der Pandemie 81 Prozent der Studienteilnehmer:innen, während des Lockdowns nur noch 63 Prozent. Dabei kann ausreichende Bewegung die Sterblichkeit um bis zu 39 Prozent senken, wie eine Studie 2015 zeigte. Daten lassen vermuten, dass zu wenig Bewegung bei etwa jedem zehnten vorzeitigen Todesfall eine Rolle spielt, denn körperliche Aktivität verringert die Wahrscheinlichkeit beispielsweise von Bluthochdruck, Stoffwechselstörungen wie Typ-2-Diabetes sowie Krebs.
Es ist bekannt, dass Bewegung das Immunsystem aktiviert, da sie die Durchblutung fördert und die für die Abwehr wichtigen Lymphozyten und Botenstoffe (Zytokine) aktiviert. So zeigen Studien, dass körperlich aktive Menschen weniger empfänglich sind für Influenza-, Rhino- und Herpesviren sowie Atemwegsinfektionen allgemein. Möglicherweise schützt Bewegung also auch vor schweren COVID-19-Verläufen, indem sie Risikofaktoren wie Übergewicht verringert. Körperliche Gesundheit und Bewegung reduzieren zudem das Risiko psychischer Beschwerden wie Depressionen und Angststörungen.
Drastisch reduziertes mentales Wohlbefinden
In einem weiteren Teil der Studie hatte das Autorenteam das mentale Wohlbefinden während der Pandemie-Einschränkungen erfragt. 73 Prozent der Studienteilnehmer:innen gaben an, dass es sich verschlechtert habe. Der Wohlbefindlichkeits-Index der WHO, der Stimmung, Entspannung, Aktivität, Ausgeruhtheit und Interesse misst, sank durchschnittlich während der ersten Lockdown-Phase von 68 Prozent gefühlter Lebensqualität vor der Pandemie auf 52 Prozent.
Die Menschen empfanden sich vor allem weniger „aktiv und energiegeladen“ und führten ein weniger „mit interessanten Dingen gefülltes Leben“. Der Anteil sehr niedriger Werte, die auf eine Depression hinweisen, verdreifachten sich von 15 auf 45 Prozent. „Diese Effekte waren stärker bei Frauen und Jüngeren “, heißt es in der Studie. „Besonders die Bedürfnisse von Frauen sollten stärker berücksichtigt werden, da sie deutlich gefährdeter sind.“
Immerhin 14 bis 20 Prozent der Befragten gaben aber auch an, dass sich ihr Befinden verbessert habe – mögliche Gründe sehen die Autor:innen in mehr Familienzeit, höherer Arbeitsautonomie, weniger Dienstreisen oder auch einer veränderten Gesundheitswahrnehmung. „Doch ein großer Bevölkerungsteil leidet möglicherweise still an noch kaum sichtbaren gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie“, warnt das Autorenteam.
Relevant für weltweit vier Milliarden Menschen
Das könnte sich auch in steigenden Gesundheitskosten äußern: Laut US-Daten sind die jährlichen Ausgaben für inaktive oder unzureichend aktive Personen um 1200 bzw. 600 Euro erhöht – das würde sich allein für die 3104 Menschen aus der Befragung, die sich während des Lockdowns nicht mehr ausreichend bewegten, nach einem Jahr auf zwei bis vier Millionen Euro summieren.
Die Ergebnisse dieser ersten multinationalen Studien dürften für geschätzt weltweit vier Milliarden Menschen relevant sein, die von den Einschränkungen der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020 betroffen waren. Allerdings wurden die Daten überwiegend über elektronische Medien erhoben, sodass Bevölkerungsteile ohne Internet nicht einbezogen wurden. Auch nach Faktoren wie Wohnumfeld, Bildung und Sozialstatus wurde nicht differenziert. Zudem beruhen die Daten auf Eigeneinschätzungen, nicht auf Messungen, was gerade die rückblickende Wahrnehmung verzerren könnte. „Dennoch zeigen unsere Ergebnisse, dass die Themen körperliche Aktivität und Wohlbefinden auf die Agenda der Politik gehören“, betont Wilke.
„Interessenvertreter müssen Strategien entwickeln, um den Verlust der körperlichen Aktivität abzumildern“, schreiben die Autor:innen. Sie schlagen vor, die Öffentlichkeit besser aufzuklären, Aktivitätsmöglichkeiten mit geringer Infektionswahrscheinlichkeit zu schaffen und beispielsweise qualifizierte Sportprogramme für zu Hause anzubieten. Dies würde sich neben zahlreichen weiteren gesundheitlichen Facetten insbesondere positiv auf das mentale Wohlbefinden auswirken.
Ähnlich negative Effekte wie in diesen Studien beobachtet müssten bei künftigen Pandemien unbedingt vermieden werden. „Körperliche Aktivität und Bewegung haben leider keine starke Lobby und werden im öffentlichen Diskurs meist vernachlässigt“, so Wilke. „Dabei können sie uns massiv dabei helfen, die Pandemie besser zu bewältigen.“
Dr. Markus Bernards Public Relations und Kommunikation
Goethe-Universität Frankfurt am Main